Wir begrüssen Kritik an unserer politischen Arbeit. Wir haben uns in den letzten Wochen überlegt, ob und wie wir auf den Instagram-Post des Kollektivs Doykait (Instagram: @kollektiv_doykait) reagieren wollen, da er zahlreiche Unwahrheiten und Verdrehungen über unser Podium im Theater Neumarkt beinhaltet und wir ihn dementsprechend nicht als aufrichtigen Diskussionsbeitrag werten.
Trotzdem wollen wir nun zu den diffamierenden Vorwürfen Stellung beziehen – besonders um stille Mitlesende mitzunehmen, die unsicher sind bei der Thematik. Den Schritt des Kollektivs Doykait, ihren Text nun nicht nur auf Instagram, sondern auch auf barrikade.info zu veröffentlichen, begrüssen wir hingegen sehr. Auch wir betrachten politische Debatten, die ausschliesslich auf Insta-Kacheln stattfinden, als kritisch. Deshalb findet Ihr unsere Replik sowohl auf barrikade.info als auch hier auf unserer neuen Website.
Zur Kritik am Podium: Thema des Podiums waren Leerstellen der queerfeministischen Solidarität mit den israelischen Opfern der Hamas-Massaker am 7. Oktober, sowie der Antisemitismus, welcher seither weltweit stark zugenommen hat. Beim Podium ging es explizit NICHT um den Krieg in Gaza, sondern um die Auswirkungen, welche dieser Konflikt auf die Situation HIER bei uns hat. Trotzdem wurde die Gewalt gegen die Zivilbevölkerung in Israel und Gaza thematisiert und verurteilt.
Das Kollektiv Doykait behauptet, dass unser Podium der Solidaritätsbewegung mit Palästina pauschal Antisemitismus vorwerfen würde. Das ist unwahr. Unsere Podiumsteilnehmer*innen zeigten anhand zahlreicher konkreter Beispiele aber auf, dass Antisemitismus innerhalb der pro-palästinensischen Bewegung existiert. Es muss möglich sein, Antisemitismus (wie auch andere Diskriminierungsformen) in den eigenen Communities zu thematisieren. Die Fähigkeit zur Selbstkritik und Selbstreflexion zeichnet linke Communities aus – oder sollte es zumindest.
Weiter unterstellt uns das Kollektiv Doykait, wir würden das Leid jüdischer und palästinensischer Menschen gegeneinander ausspielen, indem wir den hier grassierenden Antisemitismus thematisieren. Das ist eine absichtliche Verzerrung unseres Anliegens und der durchschaubare Versuch, sich gegen Kritik zu immunisieren.
Im Podium wurde unter anderem von Cordula Trunk erklärt, weswegen Antisemitismus nicht als Unterform von Rassismus verstanden werden kann. Dies entspricht dem aktuellen Stand der Antisemitismusforschung. Zu den Eigenheiten des Antisemitismus gehört unter anderem, dass Auslöschungsphantasien eine andere Rolle spielen als zum Beispiel im Rassismus. Zur Erklärung: In rassistischen Ideologien ist die “Koexistenz” mit rassifizierten Menschen möglich, denn sie können unterdrückt, beherrscht und ausgebeutet werden. Beim Antisemitismus ist eine solche Koexistenz jedoch nicht möglich, da Jüdinnen*Juden als die «Herrschenden», die die «Strippen ziehen», imaginiert werden. An KEINER Stelle wurde jedoch gesagt, dass Auslöschungsphantasien nur Jüdinnen*Juden betreffen würden. Diese Behauptung des Kollektivs Doykait entbehrt jeglicher Grundlage. Im Gegenteil. Auf dem Podium wurde z.B. auch explizit über den Genozid an den Jesid*innen gesprochen.
Wir wollen das gute Leben für alle. Dazu gehört es, neben Antisemitismus auch gegen zum Beispiel Rassismus, Ableismus, Queerfeindlichkeit und Sexismus zu kämpfen. Wie das Kollektiv Doykait aus den Erklärungen zum Antisemitismus schliesst, dass wir Antisemitismus als isoliertes Problem betrachten und uns von Rassismusbetroffenen abgrenzen würden, ist uns schleierhaft. Zudem arbeiten im Kollektiv selbst Personen mit Rassismuserfahrung und wir weisen immer wieder auf die Verbundenheit all dieser Diskriminierungsformen hin. Es ist unser expliziter Wunsch im Sinne universeller Solidarität, Allianzen und Bündnisse einzugehen.
Für uns als Kollektiv ist das Existenzrecht Israels nicht verhandelbar. Das steht nicht im Widerspruch zur berechtigten Kritik an der israelischen Regierung, die übrigens konstant auch in Israel stattfindet (beispielsweise vom Standing Together Movement). Zionismus bedeutet, die Existenz Israels und die Selbstbestimmung des jüdischen Volkes anzuerkennen. Es gibt viele Menschen, die sowohl links als auch zionistisch sind. Sie sind äusserst kritisch gegenüber rassistischen und rechtsextremen Politiken in Israel und engagieren sich in Kollektiven, Projekten und Organisationen dagegen, oder auch indem sie selbst während eines Kriegs mit Tausenden anderen auf die Strasse gehen.
Komplexität darf nicht als Ausrede gebraucht werden, um Solidarität zu verweigern. In diesem Punkt sind wir uns einig. Wir ziehen daraus jedoch andere Schlüsse.
Wir anerkennen das Leid und die Trauer aller Menschen, die vom 7. Oktober 2023 und dem Gaza-Krieg betroffen sind – wie oft müssen wir das wiederholen, um gehört zu werden? Wie bereits mehrfach erwähnt, liegt unser Fokus auf den Lebensrealitäten HIER und auf den Leerstellen und den Ausgrenzungen in unseren Communities – zu denen übrigens auch Ableismus gehört, worüber man sich natürlich lustig machen kann, wenn man vermutlich selbst nicht betroffen ist.
Wir laden alle ein, sich der eigenen Leerstellen bewusst zu werden und sich damit auseinanderzusetzen. Unabhängig davon, ob es sich dabei um Antisemitismus oder um Ableismus, Rassismus, Queerfeindlichkeit, Fettfeindlichkeit, Sexismus oder Ageismus handelt. Nur so legen wir die Grundlagen für neue Bündnisse und stärken alte Allianzen.
Wir laden euch ausserdem alle ein, euch das Podium selber anzuschauen oder den WoZ Artikel zu lesen.
Wir laden alle ein, universell solidarisch zu sein und auch wenn es zu Beginn vielleicht ungewohnt ist, nicht entlang von einfachen Gut-Böse-Schemata zu denken und zu handeln.
Wichtig bleibt, Betroffenen zuzuhören und ihnen zu glauben. Wichtig ist auch, Online-Inhalte kritisch zu rezipieren und anzuerkennen, dass insbesondere Social Media ihre Grenzen haben, wenn es um differenzierte und fundierte Infos und Debatten geht.
Zu guter Letzt: Wir laden euch alle dazu ein, Gleichzeitigkeiten und Widersprüche auszuhalten und trotz Mehrdeutigkeit und Unsicherheit solidarisch zu handeln.
Für universelle Solidarität
feministisch*komplex
Kritik? Lob? Wir nehmen gerne Eure Rückmeldungen entgegen. Schreibt uns dazu ein Mail an feministisch.komplex@gmail.com.